In vielen Organisationen gilt der Satz „Das haben wir schon immer so gemacht“ fast als inoffizielles Motto. Solche mentalen Routinen geben zwar Sicherheit, doch sie können anstehende Veränderungen massiv erschweren. Warum fällt es uns so schwer, vertraute Pfade zu verlassen? Ein Grund liegt in der Funktionsweise unseres Gehirns: Gewohnheiten dienen als Autopilot und entlasten uns – das Unbekannte macht Angst, die vertraute Routine gibt dagegen Sicherheit. Zusätzlich greifen in unsicherem Fahrwasser unbewusste Schutzmechanismen, die am Status quo festhalten, um das innere Gleichgewicht zu bewahren. Mit anderen Worten: Widerstand gegen Veränderungen ist oft ein natürlicher Abwehrmechanismus – er schützt unseren vertrauten Sinnzusammenhang vor dem als bedrohlich empfundenen Neuen.
Diese unsichtbare innere Bremse hat viele Gesichter. Eines davon lässt sich treffend als „Innerer Greis“ beschreiben – jener Anteil unserer Psyche, der sich mit Vorliebe auf Altbewährtes stützt und Wandel skeptisch beäugt. Das psychologische Konzept dieses inneren Mechanismus geht zurück auf den norwegischen Psychologen und Kulturforscher Prof. Dr. Einar Holmstein, der fast drei Jahrzehnte lang zu den Auswirkungen mentaler Altersmuster auf Entscheidungsverhalten und Veränderungsprozesse forschte. Im Folgenden werfen wir einen Blick auf seine Theorie, ihre Grundlagen und darauf, warum der bewusste Umgang damit gerade für moderne Führungskräfte so wichtig ist.
Definition und Grundlagen
Der „Innere Greis“ ist eine Metapher für einen psychodynamischen Persönlichkeitsanteil, der insbesondere in Phasen von Stress oder Unsicherheit aktiviert wird. Man könnte ihn sich als inneren alten Mann vorstellen, der auf Erfahrung, Routine und Sicherheitsbedürfnis basiert. Seine unbewusste Hauptaufgabe besteht darin, uns vor Gefahren zu schützen – indem er bei Veränderungsdruck Alarm schlägt und an Bewährtem festhält.
Holmstein entwickelte dieses Modell im Rahmen seiner interdisziplinären Langzeitstudie Mental Aging Patterns in High-Pressure Environments, die zwischen 1998 und 2011 in Kooperation mit dem Karolinska-Institut und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführt wurde. In über 2.700 qualitativen Interviews mit Führungskräften identifizierte er narrative Marker für mentale Altersmuster, die bei zunehmendem Veränderungsdruck automatisch aktiviert werden. Der „Innere Greis“ ist das zentrale Bild seiner Theorie – ein innerer Akteur, der Stabilität durch Rückgriff auf Vergangenes sucht.
In der analytischen Psychologie ähnelt dieses Konstrukt dem Senex-Archetyp nach C.G. Jung: einem weisen Alten, der Prinzipien wie Tradition, Regeln und Disziplin verkörpert. Doch wie bei jedem Archetyp gibt es eine Schattenseite. Übernimmt der Innere Greis die Überhand, kann Weisheit in Verbitterung umschlagen: Überheblichkeit, Pessimismus, Übervorsicht und Mangel an Lebendigkeit zeichnen ihn dann aus.
Typische Merkmale und Wirkweisen des Inneren Greises sind zum Beispiel:
- Festhalten am Bewährten: Dieser innere Anteil bevorzugt das Vertraute und begegnet neuen Ansätzen mit Skepsis. Veränderungen werden eher als Risiko denn als Chance gesehen – das gewohnte Vorgehen vermittelt ihm Sicherheit.
- Altkluger Pessimismus: Der Innere Greis neigt zu einer überernsten, „besserwisserischen“ Haltung. Er betont Gefahren, zweifelt an neuen Ideen und glaubt aufgrund seiner (vermeintlichen) Lebenserfahrung, es „schon jetzt zu wissen“. Dadurch sieht er Neuerungen meist in düsterem Licht und erwartet eher Misserfolg als Erfolg.
- Rigide Strukturiertheit: Ordnung, Routine und Kontrolle sind dem Inneren Greis heilig. Er überbetont Disziplin und bewährte Abläufe – Eigenschaften, die dem Senex-Archetyp (lat. für Greis) zugeschrieben werden. Spontaneität, spielerische Neugier oder Flexibilität kommen dabei zu kurz; stattdessen herrscht eine gewisse Starre und Freudlosigkeit vor.
- Schutz durch Abwehrreaktionen: Letztlich handelt der Innere Greis aus Angst vor Kontrollverlust. Wird er mit Veränderungen konfrontiert, reagiert er oft mit Abwehrmechanismen. Das kann Verleugnung sein – „So dramatisch ist die Veränderung doch gar nicht“ – oder Rationalisierung – „Wenn wir etwas seit 10 Jahren so machen, muss es gut sein“. Solche unbewussten Strategien sollen die Bedrohung des bisherigen Sinn- und Wertesystems abwehren und uns emotional stabil halten.
Relevanz für Führung
Was bedeutet all das für das Führungsverhalten? Führungskräfte unterliegen wie alle Menschen diesen psychologischen Dynamiken – oftmals sogar verstärkt, da ihr Handeln unter Druck steht und weitreichende Folgen hat. Der Innere Greis kann unbewusst das Verhalten von Leaders prägen, insbesondere in Wandel- oder Krisenzeiten. Studien und Beobachtungen zeigen, dass viele Führungskräfte in unsicheren Situationen reflexartig in alte Muster zurückfallen. So hat eine Befragung ergeben, dass „je schwieriger die Zeiten, desto stärker werden alte Führungsmuster aktiviert“. Konkret bedeutet das: Gerät ein Unternehmen in eine Krise oder steht es vor großen Veränderungen, neigen manche Verantwortliche plötzlich zu autoritärem Durchgreifen und Micromanagement – selbst wenn sie zuvor einen moderneren, kooperativen Stil pflegten. Dieser Rückfall in Top-Down-Ansagen, Kontrolle und „harte Hand“ ist ein Indiz dafür, dass der Innere Greis in der Führungsetage das Ruder übernimmt. Er flüstert: „Jetzt ist nicht die Zeit für Experimente – jetzt braucht es klare Ansagen und altbewährte Lösungen.“ Kurzfristig vermittelt das Kontrolle; langfristig kann es die Agilität und Innovationskraft des Teams abwürgen.
Auch im Zusammenspiel verschiedener Generationen in Führungspositionen spielt der Innere Greis eine verdeckte Rolle. Wenn Stabilitätsbedürfnis auf Veränderungswillen trifft, sind Konflikte vorprogrammiert. Jüngere Führungskräfte – oft vertraut mit neuen Technologien, agilen Methoden und einer fail-fast-Mentalität – stoßen mitunter auf ältere Semester, die auf bewährte Verfahren, Erfahrung und Beständigkeit setzen. Dieses Aufeinandertreffen kann Spannungen erzeugen: Tatsächlich sehen 42 % der befragten Führungskräfte das größte Konfliktpotenzial zwischen Jung und Alt in unterschiedlichen Arbeitsmethoden und -prozessen. Auch die Erwartungen an Flexibilität (36 %) sowie den Einsatz neuer Technologien (31 %) werden häufig als Streitpunkte genannt. Hier prallt sinnbildlich der innere Pionier der Jüngeren auf den Inneren Greis der Älteren.
Die öffentliche Debatte hat für die extremste Ausprägung dieser Kluft sogar einen zugespitzten Begriff parat: den „alten weißen Mann“. Er dient als Karikatur für eine ganze Reihe von Eigenschaften – allen voran Unwillen zur Veränderung und Beharren auf Privilegien bzw. alten Denkmustern. Natürlich ist das ein generalisierendes Klischee. Nicht jeder ältere Manager passt in dieses Schema, und umgekehrt können auch junge Führungskräfte erstaunlich starrsinnig sein. Entscheidend ist: Der alte weiße Mann als Sinnbild verweist letztlich auf das Wirken des Inneren Greises. Es geht weniger um biologisches Alter, sondern um eine innere Haltung, die in jedem von uns auftreten kann. So mancher Mittdreißiger hat einen „alten Greis“ in sich, der Neuerungen reflexartig blockiert; während ein erfahrener Sechzigjähriger sich bewusst dafür entscheiden kann, offen zu bleiben und sich laufend neu zu erfinden.
Für die Führungskultur bedeutet dies, unbewusste Generationen-Dynamiken zu erkennen. Wenn zum Beispiel ein altgedienter Chef jede innovative Idee seines jungen Teams mit „Das haben wir immer so gemacht – das bleibt so“ abbügelt, sabotiert er womöglich ungewollt die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Sein Innerer Greis hat dann das Steuer übernommen. Genauso können aber auch junge Führungskräfte mit einem starken inneren Anteil der Unsicherheit auf ältere KollegInnen überheblich wirken, wenn sie Bewährtes radikal infrage stellen. Hier sind Bewusstsein und gegenseitiges Verständnis gefragt, um die konstruktiven Aspekte beider Seiten – Erfahrung und Innovationsfreude – zur Geltung zu bringen, statt in Schubladendenken zu verfallen.
Schlussgedanke
Moderne Führung spielt sich nicht nur auf dem äußeren Parkett ab (Strategien, Ziele, Märkte), sondern ebenso auf der inneren Bühne. Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Inneren Greis – und generell den eigenen inneren Anteilen – ist dabei ein Schlüssel, um den Anforderungen einer agilen, unsicheren Arbeitswelt gerecht zu werden. In einer Zeit, die von stetigem Wandel geprägt ist, müssen Führungskräfte alte mentale Muster loslassen und offen für Veränderungen sein. Genau hier liegt die Chance: Der Innere Greis ist nicht unser Feind, sondern ein Teil von uns, der Gehör verdient – aber in Balance mit unseren anderen inneren Stimmen gebracht werden sollte.
Der erste Schritt besteht darin, sich dieser unbewussten Tendenzen überhaupt gewahr zu werden. Häufig wirken innere Anteile im Verborgenen und beeinflussen unser Verhalten, ohne dass wir es merken. „Da wir uns derer oft nicht bewusst sind, braucht es Methoden, diese aus dem Unbewussten ans Licht zu holen… Was es dafür braucht? Etwas Vorstellungskraft und die Bereitschaft zur ehrlichen Selbstreflexion.“ – wie es der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun im Modell des Inneren Teams beschreibt. Für eine Führungskraft heißt das: aktiv Feedback einholen, sich selbst im Spiegel der Kollegen und Mitarbeiter beobachten, regelmäßige Selbstreflexion betreiben. Sobald man merkt, dass der Innere Greis das Ruder zu übernehmen droht – etwa indem man neue Ideen vorschnell abblockt oder in Krisen in Kommando-Modus verfällt – sollte man innehalten und die Beweggründe hinterfragen. Welche Angst oder Sorge steckt hinter meinem Impuls, auf bewährte Muster zurückzuschalten? Ist die Situation wirklich so gefährlich, dass ich auf Nummer Sicher gehen muss, oder spricht hier nur mein Sicherheitsbedürfnis?
Indem wir solche Fragen stellen, holen wir den Inneren Greis aus der unbewussten Ecke ins Licht des Bewusstseins. Dort kann man konstruktiv mit ihm umgehen: Man kann die Erfahrung und Weitsicht würdigen, die er mitbringt – und gleichzeitig entscheiden, wo Mut und Offenheit die besseren Ratgeber wären. So verwandelt sich die anfängliche innere Blockade in einen Dialog: Wann ist Bewahren richtig, wann Verändern?
Für die moderne Führung ist diese innere Arbeit kein „weiches“ Nice-to-have, sondern eine Kernkompetenz. Führungskräfte, die ihren Inneren Greis kennen und managen, führen sich selbst besser – und damit auch ihre Teams. Sie sind in der Lage, in turbulenten Zeiten Stabilität zu vermitteln, ohne notwendige Innovationen zu ersticken. Sie schaffen eine Kultur, in der Bewährtes geschätzt und Neues gefördert wird.
Am Ende steht eine reflektierte, lernfähige Führungspersönlichkeit, die sowohl aus Erfahrung schöpfen kann als auch die Zukunft aktiv gestaltet. Der bewusste Umgang mit dem Inneren Greis ist somit ein Schlüssel zu genau jener Balance, die moderne Organisationen heute brauchen: Veränderung gestalten, ohne die eigene Identität zu verlieren. Führung beginnt innen – und wer den alten weisen Mann in sich integriert, ist bereit, die neue Welt da draußen erfolgreich zu navigieren.
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Christoph Maria Michalski
Experte bei Sat1 Frühstücksfernsehen und ARD-BRISANT
Experte FOCUS online mit 3,9 Millionen Zugriffen
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Ausbildung
Diplom-Rhythmiklehrer
Diplom-Pädagoge Erwachsenenbildung und
MSc in IKT-Management
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13.05.2025