𝗠𝘂𝘁𝘁𝗲𝗿𝘁𝗮𝗴 –𝗪𝗲𝗿𝘁𝘀𝗰𝗵𝗮̈𝘁𝘇𝘂𝗻𝗴 o𝗱𝗲𝗿 s𝘁𝗿𝘂𝗸𝘁𝘂𝗿𝗲𝗹𝗹 𝗴𝗲𝘁𝗮𝗿𝗻𝘁𝗲𝗿 𝗥𝘂̈𝗰𝗸𝘀𝗰𝗵𝗿𝗶𝘁𝘁?

Der Muttertag wirkt auf den ersten Blick wie ein liebevolles Ritual. Doch dahinter steckt ein subtiler Mechanismus gesellschaftlicher Verwirrung. Wer einen Tag im Jahr feierlich „Danke“ sagt, macht sich oft bequem aus der Verantwortung für 364 Tage struktureller Missachtung. Die Mutter wird zur Projektionsfläche für Idealbilder: selbstlos, aufopfernd, liebevoll – aber bitte nicht fordernd, laut oder unbequem.

Die Ursprünge des Muttertags in Deutschland sind entlarvend: Eingeführt unter den Nationalsozialisten, um das Leitbild der „deutschen Mutter“ zu feiern. Zwar hat sich der Kontext verändert, doch das Grundprinzip bleibt: Die Frau wird als Mutter gewürdigt, nicht als Person mit eigenem Leben, Beruf, Stimme. Wer nicht Mutter ist, fällt durch das Raster. Wer Mutter ist, muss in eine Rolle passen. Die private Aufopferung wird zur politischen Strategie.

Ein echter Ausdruck von Wertschätzung wäre es, die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen von Müttern ganzjährig zu verbessern. Stattdessen gibt es Blumen, Schokolade – und das gute Gefühl, etwas getan zu haben. So wirkt der Muttertag wie ein Feigenblatt, das systematische Ungleichheit charmant kaschiert.

Care-Arbeit loben – aber bloß nicht bezahlen? 

Es gibt kaum einen größeren Widerspruch als den zwischen gesellschaftlicher Lobhudelei für „Mutterliebe“ und der ökonomischen Unsichtbarkeit von Care-Arbeit. Während am Muttertag Sonntagsreden gehalten werden, bleibt der Alltag der Mütter ökonomisch entwertet: unbezahlte Familienarbeit, mentale Last, Teilzeitfallen. Die Zahlen sind eindeutig: Mütter übernehmen den Löwenanteil an unbezahlter Arbeit im Haushalt, bei der Kindererziehung, in der Pflege. Diese Arbeit ist die Grundlage dafür, dass andere überhaupt ihrer Erwerbsarbeit nachgehen können. Doch sie taucht in keiner Bilanz auf. Kein Gehalt, keine Rente, kein echter gesellschaftlicher Status. Stattdessen gibt es symbolische Aufmerksamkeiten. Die Botschaft: Deine Arbeit ist wertvoll – aber nicht wert, dafür zu zahlen. Der Muttertag perpetuiert dieses Missverhältnis, indem er für einen Tag Anerkennung vorgaukelt, ohne strukturelle Konsequenzen zu ziehen. Wäre es nicht angebrachter, Steuer- und Rentenmodelle zu ändern? Flexible Arbeitsmodelle zu schaffen? 

Solange das nicht passiert, ist der Muttertag eine gut gemeinte Ohrfeige: ein Lob auf Kosten derer, die ohnehin schon die Hauptlast tragen.

Was hat Muttersein mit Weiblichkeit zu tun – und was nicht? 

Der Muttertag reduziert Weiblichkeit auf Biologie. Wer Mutter ist, gilt als „richtige Frau“. Wer keine Kinder hat oder haben will, gilt als defizitär. Dieses implizite Urteil steckt in vielen Muttertagsbotschaften, Werbekampagnen und politischen Sonntagsreden. Damit geht eine unsichtbare Ausgrenzung einher. Frauen, die kinderlos sind, werden nicht gefeiert. Trans-, inter- oder nichtbinäre Eltern existieren in diesem Konzept nicht. Auch Pflege- oder Bonusmütter passen nicht ins Bild. Der Muttertag funktioniert nur, solange man ein normatives Familienbild zugrunde legt: Vater, Mutter, Kind. Am besten mit Eigenheim und Dackel. Doch das ist nicht die Realität. Familien sind heute vielfältig. Mutterrollen sind nicht automatisch an das biologische Gebären gekoppelt. Und nicht jede Frau ist Mutter. Trotzdem bleibt die Botschaft des Tages: Nur wer Mutter ist, ist wertvoll. Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich anders definieren oder andere Lebensentwürfe verfolgen. 

Wenn wir von echter Gleichstellung sprechen, müssen wir auch den Mut haben, den Mutterbegriff zu überdenken. Der Muttertag bietet dafür keine Lösung. Er zementiert das Problem.

Warum wird Vatertag gefeiert – und Muttertag begutachtet? 

Ein kurzer Blick auf den Kalender: Vatertag heißt Männergruppe, Bollerwagen, Bier. Muttertag bedeutet Frühstückstisch, Gedicht, Dankbarkeit. Das eine ist eine Party. Das andere ein moralischer Appell. Darin liegt eine tiefe gesellschaftliche Asymmetrie. Während Männer an „ihrem“ Tag loslassen dürfen, sollen Frauen an „ihrem“ Tag Haltung zeigen. Der Muttertag wird zur Prüfung: War sie geduldig genug? Stark genug? Liebevoll genug? Hat sie sich aufgeopfert, ohne zu klagen? Dann gibt es ein Lob. Wenn nicht, ist sie keine „gute Mutter“. Der Vatertag feiert das Individuum, der Muttertag die Funktion. Männer dürfen sich am Vatertag selbst feiern, Mütter müssen sich am Muttertag gefallen lassen, was andere in sie hineinprojizieren.

Diese Doppelmoral offenbart, wie weit Gleichstellung noch entfernt ist. Wer Mütter wirklich entlasten will, schafft nicht nur Rituale ab – sondern auch Erwartungshaltungen. Vielleicht ist der beste Muttertag der, an dem niemand von ihr etwas erwartet. Auch keine Dankbarkeit.

Gendergerechtigkeit oder Genderwischiwaschi – macht der Muttertag echte Probleme unsichtbar? 

In politischen Reden ist oft von „Elternzeit“ und „Partnerschaftlichkeit“ die Rede. Doch der Alltag zeigt: Die Hauptlast tragen noch immer die Mütter. Der Muttertag lässt sich wunderbar für Sonntagsreden instrumentalisieren – während Alleinerziehende, Pflegemütter, überforderte Familien mit niedrigem Einkommen kaum Gehör finden. Gleichzeitig verschwimmen die Konturen der Geschlechterdebatte: In der Bemühung um inklusive Sprache geht manchmal das Konkrete verloren. Die reale Benachteiligung von Müttern wird unsichtbar gemacht, wenn man nur noch von „Eltern“ spricht – und sich nicht mehr traut, die strukturellen Ungleichheiten klar zu benennen. Der Muttertag verschärft diesen Widerspruch. Statt Klartext zu reden über Armut, fehlende Betreuungsplätze, mental load und Rentenlücken, gibt es Lyrik in der Grundschule. Wäre es nicht ehrlicher, sich dem Unbequemen zu stellen? Stattdessen macht der Muttertag das System angenehm weichzeichnend. Wer ihn hinterfragt, gilt schnell als lieblos. Dabei ist die wahre Form der Liebe manchmal Kritik.

Zwischen Dankbarkeit und Überforderung – wer schützt Mütter vor dem Mutterbild? 

Die „gute Mutter“ ist ein belastendes Ideal: immer geduldig, immer da, immer in Führung bei allem, was die Familie betrifft. Dieses Ideal erzeugt Druck, Schuldgefühle und Überforderung. Es wird am Muttertag nicht gebrochen – es wird gefeiert. Viele Mütter berichten davon, wie sehr sie sich an diesem Tag fremdgesteuert fühlen. Zwischen Erwartungen der Familie, Inszenierungen auf Social Media und der eigenen Erschöpfung bleibt kein Raum für echte Selbstfürsorge. Wer sich am Muttertag „freinehmen“ will, muss es begründen. Wer keine Lust auf Brunch hat, gilt als undankbar. So wird ein eigentlich netter Feiertag zu einer Falle. Die gesellschaftlich erwünschte Mutterrolle wird nicht hinterfragt, sondern bekräftigt.

Wer Mütter entlasten will, muss sie nicht feiern, sondern freilassen: von Erwartungen, Idealen und klischeehaften Zuschreibungen.

Der Muttertag ist kein Schutzraum für Mütter. Er ist ein Schaufenster. Und wer sich nicht gut genug präsentiert, bekommt keinen Applaus. Vielleicht brauchen wir statt eines Tages für Mütter endlich ein Jahr für Gleichstellung.

Jeden Tag.

Nicht nur am zweiten Sonntag im Mai.

Das Video dazu finden Sie auf YouTube.

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Christoph Maria Michalski

Experte bei Sat1 Frühstücksfernsehen und ARD-BRISANT

Buch: Streiten mit System: Wie du lernst, Konflikte zu lieben

 Experte FOCUS online mit 3,9 Millionen Zugriffen

Berater mit einer virtuellen Tour HIER

Dozent der HAUFE Akademie

Ausbildung

Diplom-Rhythmiklehrer

Diplom-Pädagoge Erwachsenenbildung und

MSc in IKT-Management

Kurzvita

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08.05.2025

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